Streichen der Staatsschulden: Warum der Münchhausen-Trick (nicht) funktioniert

Streichen der Staatsschulden: Warum der Münchhausen-Trick (nicht) funktioniert

Einige wenige Experten sprachen bereits vor der großen Finanzkrise 2008/2009 von der „vollständigen Monetarisierung der Staatsschulden“ und waren damit ihrer Zeit deutlich voraus. Unter dem damals für die allermeisten Investoren neuen Begriff verbirgt sich der Erwerb von Staatsanleihen durch die Notenbank. Was früher undenkbar war, wird heute als „Quantitative Easing“ (QE) bezeichnet. Etwas umgangssprachlicher ausgedrückt und dabei gut auf den Punkt gebracht: Die Zentralbanken drucken Geld und betreiben damit eine Staatsfinanzierung durch die Notenbankpresse. Die Vorstellung, der Staat braucht mehr Geld und die Notenbank erschafft dieses Geld aus dem Nichts, erinnert manch einen Betrachter an die Märchenfigur des Barons Münchhausen. Dem Baron sind nämlich Dinge gelungen, die andere erst gar nicht versuchen würden. Beispielsweise gelang es Münchhausen der Gefangenschaft durch einen Ritt auf der Kanonenkugel zu entfliehen oder über eine riesige Bohnenpflanze zum Mond hinauf zu klettern. Ja, er war – zumindest nach eigenen Erzählungen – sogar dazu in der Lage, sich am eigenen Schopf mitsamt seinem Pferd aus dem Sumpf zu ziehen. Hierin könnte eine Parallele zum heutigen Finanzsystem gesehen werden: Denn der aktuell immer häufiger zu hörende Vorschlag, die massive Staatsschuldenlast zu senken, indem etwa die Europäische Zentralbank einen (Groß)Teil der von ihr erworbenen Anleihen einfach wegstreicht, wirkt auf den ersten Blick genial einfach, bei genauerer Betrachtung dann aber doch überaus tollkühn.

Grad der Staatsschulden-Monetarisierung 2007 vs. heute

Steigende Zahl von Anhängern

Im Zuge der aktuell sehr aufgeblähten Haushaltsdefizite und der ausufernden Staatsschulden gewinnt das Thema Schuldenerlass mehr und mehr an medialer Beachtung. Riccardo Fraccaro, enger Vertrauter des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte und Mitglied seiner Regierung, hat erst jüngst einen Schuldenerlass für die von der Corona-Pandemie neu geschaffenen Staatsschulden vorgeschlagen. Ein solches Ansinnen aus der italienischen Politik mag nicht überraschen. Etwas anders sieht dies schon bezüglich einer Gruppe von hundert europäischen Volkswirten aus – unter ihnen der französische Starökonom und bekannte Buchautor Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) – die im Februar 2021 in einem offenen Brief für eine Streichung aller von der EZB gehaltenen Staatsanleihen plädierten. Darüber hinaus haben sich auch renommierte Investoren, wie z.B. Mark Dowding, Chief Investment Officer der auf Anleihen spezialisierten Londoner Investmentfirma BlueBay, für einen Schuldenerlass mittels Auslöschen von Staatsanleihen durch die weltweit führenden Zentralbanken ausgesprochen. Hierzu hat Dowding einen Gastbeitrag in der Financial Times veröffentlicht, der in sich schlüssig argumentiert ist. Rein „technisch“ betrachtet wäre es demnach möglich, die Schuldenlast auf diese Art und Weise zu senken

Der grosse Schuldenschnitt ist technisch möglich und auch schlüssig

Auf den ersten Blick ist die Argumentation für einen Staatsschuldenerlass auch durchaus nachvollziehbar. Ein derartiger großer Schuldenschnitt würde keinem wehtun, da lediglich die Notenbanken enteignet würden, die anschließend weniger Eigenkapital in ihren Bilanzen stehen hätten. Private Investoren würden nicht geschädigt werden. Gleichzeitig würde dieser Schritt eine Normalisierung der Geldpolitik ermöglichen. Mit niedrigeren Staatsschulden könnten die Zentralbanken ihre QE-Programme – also den Kauf von Staatsanleihen im Sekundärmarkt – beenden und die Zinsen wieder erhöhen, ohne dass dadurch ein Kollaps des Finanzsystems ausgelöst würde. Die (Finanz)Welt wäre wieder zurück in der Zeit vor der Finanzkrise 2008/2009. Die wachsende soziale Ungleichheit der letzten zehn Jahre, die auch durch die Vermögenspreisinflation, ausgelöst vom niedrigen Zinsumfeld, verursacht worden ist, könnte damit unter Kontrolle gebracht werden. Die Argumentation klingt zunächst schlüssig. Der Schuldenerlass scheint machbar und vielleicht sogar vernünftig.

Die privaten Schulden auch wegstreichen?

Auf den zweiten Blick stellt sich die Lage allerdings etwas komplexer dar. Neben den Staatschulden sind nämlich auch die privaten Kredite zu beachten, d.h. das Fremdkapital der Unternehmen und die Schulden der Haushalte. Und auch diese haben seit der Finanzkrise 2008/2009 erheblich zugenommen und befinden sich aktuell ebenfalls auf einem Rekordstand. Praktisch alle hochentwickelten Länder sind stark verschuldet. Der Unterschied liegt lediglich in der Aufteilung der Schulden auf die verschiedenen Sektoren. Hat bei einigen Volkswirtschaften eher der Staat über seine Verhältnisse gelebt, ist es bei anderen der private Sektor (Haushalte und Unternehmen), der hoch verschuldet ist. Ein gutes Beispiel für den zweiten Fall ist die Schweiz, die üblicherweise als Musterschüler in Sachen Schuldenmanagement präsentiert wird. So sind die schweizerischen Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) dann in der Tat auch sehr gering. Insgesamt fällt die Verschuldung der Eidgenossen jedoch höher als die der Italiener aus – einem Volk, das in seiner Gesamtheit üblicherweise als „Schuldensünder“ bezeichnet wird. Dabei resultiert die hohe Verschuldung der privaten Haushalte in der Schweiz typischerweise aus Hausfinanzierungen. Aus diesem Grund könnten schweizerische Hypotheken im Falle eines Zinsanstiegs auch zu einer enormen Belastung werden und einen Crash am Wohnimmobilienmarkt auslösen. Und genau hier liegt das Problem eines Staatschuldenerlasses: Es würde Italien ermöglichen, mit höheren Zinsen zu leben, jedoch nicht der Schweiz oder anderen Ländern mit sehr hohen Schuldenständen im privaten Sektor.

Gesamtschulden nach Land in % des BIPs (2007 vs. 2020)

Eine Normalisierung der Geldpolitik wäre daher nur mit einem umfangreichen Schuldenerlass über die gesamte Breite der Schuldner vorstellbar: Staat, private Haushalte und Unternehmen. Kein Problem, könnte man jetzt denken: Die Zentralbanken – angefangen bei der EZB – müssten eben nur mehr Unternehmensanleihen (Corporate Bonds) und mehr Hypothekenbesicherte Anleihen (Pfandbriefe, Mortgage Backed Securities) kaufen. Erst danach käme der Schuldenschnitt, der dann die gesamte Breite der Schuldner erfassen würde. Das klingt zwar etwas zeitaufwendiger und von der Umsetzung her komplexer, scheint jedoch immer noch machbar zu sein.

Umverteilungseffekte als Showstopper

Das ist es aber leider nicht. Denn wie könnte die EZB es rechtfertigen, die Unternehmensanleihen der hochverschuldeten Firma A wegzustreichen, die Schulden ihres Wettbewerbers, der Firma B, die nur Bankdarlehen und keine ausstehenden Anleihen besitzt, aber vollkommen unberührt zu lassen? Ganz zu schweigen von den negativen Auswirkung auf die Wettbewerbsposition von Firma C, die schuldenfrei ist. Dieselbe Argumentation kann auf die Umverteilungseffekte von Schuldenschnitten bei privaten Hypotheken angewendet werden. Warum sollten Bürger, die Hypotheken aufgenommen und mit diesen Immobilienkäufe finanziert haben, und damit in der Regel aus höheren Einkommensschichten stammen, gegenüber ihren Pendants ohne Immobilienbesitz massiv bevorzugt werden? Dies gilt umso mehr, als hier ein nicht demokratisch gewählter Entscheidungsträger in die Wettbewerbsposition von Unternehmen und die Vermögens- (um)verteilung zwischen Privatpersonen massiv eingreifen würde, eine unseres Erachtens spektakulär phantasievolle Annahme. Die Unabhängigkeit der Zentralbanken ist seit der Finanzkrise sehr stark unter Beschuss geraten. EZB, Fed und Co. können und werden nichts unternehmen, um ihre Position weiter zu untergraben. Der große Schuldenschnitt ist daher extrem unwahrscheinlich, zu einem „Zurückdrehen der Uhr“ wird es nicht kommen. Expansive Geldpolitik, QE und Niedrigzinspolitik werden in absehbarer Zeit bestehen bleiben. Man könnte es auch QE-Infinity nennen.

Verbraucherpreis-Inflation als Auslöser für eine Zinswende?

Damit stellt sich die Frage, ob bei einer dauerhaften Nullzinspolitik verbunden mit dem permanenten Drucken frischen Geldes eine hohe Inflationsrate nicht eine reelle Gefahr darstellt. Dies auch vor dem Hintergrund, dass Inflation die Schulden erodieren lässt, was die Politik möglicherweise begrüßt. Wie im FAM Winterbericht 2020/2021 ausführlich dargelegt, würden allerdings schon kleine Zinsanhebungen ausreichen, um die aggregierte Nachfrage zu dämpfen und dementsprechend jegliche Inflationstendenzen im Keim zu ersticken. Solange die Zentralbanken ihre Unabhängigkeit bewahren, werden sie die hierzu benötigten kleinen Zinsschritte auch durchführen, falls dies irgendwann erforderlich werden sollte, um die Inflation nicht weglaufen zu lassen. Beispielhaft kann hier etwa das Verhalten der US-Notenbank im Jahr 2018 angeführt werden. Dennoch herrscht am Markt momentan mal wieder Zinsangst. Auslöser sind Inflationssorgen infolge der massiven Konjunkturprogramme sowie anziehende Rohstoffpreise. Die US-Renditen sind bereits deutlich geklettert, und auch hierzulande sind Langläufer bester Bonität unter Druck geraten. Aus unserer Sicht handelt es sich dabei jedoch um ein vorübergehendes Phänomen. Alle paar Jahre taucht das Zinsgespenst auf – und zwar meistens dann, wenn niemand damit rechnet. Inzwischen hat die EZB sich hierzu eindeutig positioniert: Notenbankpräsidentin Christine Lagarde hat klargestellt, dass ein Zinsanstieg die wirtschaftliche Erholung in der Eurozone gefährden würde und deshalb das Tempo der Anleihekäufe erhöht.

Konsequenzen für Rentenportfolios

Die Zeit in der Zinswüste wird noch viele Jahre andauern. Dennoch wird es immer wieder mal zu zwischenzeitlichen Renditeanstiegen kommen, die bei Papieren mit Top-Ratings Kursverluste auslösen. Diese fallen selbstverständlich umso heftiger aus, je länger die Restlaufzeit noch ist. So waren es jüngst die erst kürzlich emittierten 50jährigen Staatsanleihen aus Spanien und Frankreich, die besonders stark unter Druck geraten sind. Solche Schuldverschreibungen sind weiterhin zu meiden, da ihr Chance-Risiko-Profil negativ ist. Besser sind Unternehmensanleihen mit guter Bonität am unteren Ende des Investment Grade-Spektrums (Rating BBB) mit kurzer bis mittlerer Restlaufzeit. Hiermit ist zumindest eine Umschiffung der Negativzinsen möglich. Um eine Ex-ante-Chance auf signifikante Vermögenszuwächse zu haben, sollten unregulierte Anleihe-Investoren – sofern die jeweilige Risikotragfähigkeit dies erlaubt – für die kommenden Jahre auf High Yield Bonds setzen. Bei dieser Asset Klasse besteht sogar ein gewisser Inflationsschutz. Das kommt nun zwar lange nicht so spektakulär daher wie sich und sein Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, bietet bei aktivem Management dafür aber realistische Chancen auf jährliche Rendite von durchschnittlich rund fünf Prozent.

Kursverlauf langfristiger Staatsanleihen aus Deutschland, Österreich und Spanien

FAM Frankfurt Asset Management AG

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